Kykladenkulturidole: Göttinnen und Musikanten

Kykladenkulturidole: Göttinnen und Musikanten
Kykladenkulturidole: Göttinnen und Musikanten
 
Kykladen wurden von den Griechen der Antike jene Inseln genannt, die im Kreis (griechisch »kyklos«) die heilige Insel Delos, die Geburtsstätte des Apollon und der Artemis, umlagern. Die meisten der Inseln liegen in Sichtweite voneinander. Es gibt wohl keine Landschaft im gesamten Mittelmeergebiet, in der sich in vergleichbarer Weise Landmassen und Meer durchdringen. Bereits die Landesnatur begünstigt so Seefahrt und kulturellen Austausch. Hinzu kommen reiche Bodenschätze: Obsidian, ein schwarzes, vulkanisches Glas, das in der Steinzeit, aber auch noch während der Bronzezeit zur Herstellung von Klingen und Pfeilspitzen diente, auf der Insel Helos, Marmor auf den Inseln und Paros, Silber und Blei sowie vereinzelt auch Gold auf der Insel Siphnos.
 
Wenig ist über das Siedlungswesen auf den Kykladen während der frühen Bronzezeit bekannt. Vereinzelte, zum Teil befestigte Siedlungen wie beispielsweise Kastri auf der Insel Syros, liegen in Meeresnähe auf Hügeln, deren steile Hänge natürlichen Schutz gewähren.
 
Umso aussagekräftiger sind die Grabanlagen. Einfache Erdgruben oder Steinkistengräber liegen gerade in der Frühzeit der Kykladenkultur vielfach in kleinen Gruppen zusammen, die Rückschlüsse auf bescheidene Weiler oder dorfartige Ansiedlungen in der Nähe zulassen. Die Gräber bergen meist nur einen Toten, der gewöhnlich in Hockstellung auf der Seite liegend beigesetzt wurde. Ein ausgedehnteres Gräberfeld, das wohl aus der Zeit um 2500 v. Chr. stammt, ist bereits am Ende des vorigen Jahrhunderts in Chalandriani auf der Insel Syros untersucht worden. Es liegt nicht weit von der Siedlung Kastri, ist jedoch älter als diese. In Chalandriani wurden die älteren Steinkisten von unterirdisch angelegten Gräbern abgelöst, deren Kammer von kuppelartig aufgeschichteten Steinplatten überdeckt wird.
 
Die beeindruckende Idolplastik aus Marmor und Terrakotta gewährt Einblick in die geistigen Vorstellungen der Kykladenbewohner von der Steinzeit bis zum 3. Jahrtausend. Die steinzeitliche Kleinplastik aus Marmor und Terrakotta bevorzugt einen Typus stehender oder auch hockender, fettleibiger weiblicher Figuren, wobei die Betonung des Gesäßes, des Schamdreiecks und der Brüste ganz unmittelbar den Aspekt der Fruchtbarkeit in den Vordergrund stellt. Seltener sind die auf den Kykladen wie auf dem griechischen Festland zu findenden abstrakten, schematischen Idole, deren Umrisse nur noch entfernt die weiblichen Körperformen erkennen lassen. An derartige Typen knüpften die kykladischen Bildhauer am Beginn des 3. Jahrtausends v. Chr. zunächst an. Zu den ältesten Formen gehören die »Violinidole«, Figürchen von extrem schematischer Formgebung. Eine Halbrundform, die auf die steinzeitlichen hockenden Idole mit untergeschlagenen Beinen zurückweist, veranschaulicht den Unterkörper; darüber zieht sich die Kontur zur Taille ein und buchtet dann noch einmal zu zwei halbrunden oder auch eckigen Armstümpfen aus. Aus dieser Form wächst ein langer, konischer Hals hervor. Ein Kopf wird nicht angedeutet. Unter diesen in ihrer rigorosen Abstraktion kaum noch zu überbietenden Formen sind durchaus Einzelexemplare, die sich durch das Gleichmaß ihrer Proportion sowie durch die Ebenmäßigkeit und Eleganz ihrer Umrissführung als frühe Meisterwerke zu erkennen geben. Der hohe Abstraktionsgrad schließt organische Details nicht aus: So wird das Schamdreieck gelegentlich durch Ritzung angegeben, und die Brüste werden in flachem Relief modelliert. An Einzelstücken, die wohl das Werk experimentierfreudiger Bildhauer darstellen, heben sich sogar im flachen Relief die Arme, die unter den Brüsten verschränkt sind, ab. Damit scheint ein Endpunkt in der Entwicklung des Violinidols erreicht.
 
In der Folge experimentierten einzelne Werkstätten noch mit der Grundform des Violinidols weiter, das nun durch eine organischer geformte Beinpartie erweitert wurde oder auch durch eine dreieckige oder rundliche Kopfform, die den überlängten Halsstumpf der früheren Violinidole ablöste. Ein deutlicheres Oberflächenrelief verrät das Streben nach größerer körperlicher Qualität. Wohl gegen die Mitte des 3. Jahrtausends v. Chr. entsteht der klassische Typus des stehenden weiblichen Kykladenidols von naturnäherer Gestaltung. Das Neuartige wird bereits an den Beinformen deutlich. Schwellende Becken- und Oberschenkelformen setzen sich gegen die schmaler modellierten Waden ab, diese wiederum sind gewöhnlich hart gegen die fast rechteckigen Fußformen abgegrenzt. Die Figuren sind häufig durch ein leichtes Einknicken in den Knien gekennzeichnet, das ihnen einen federnden Stand verleiht. Allerdings fehlt ihnen eine Basis. Sie waren auch nicht zum Stehen gedacht, sondern wurden als Grabbeigabe in das Grab gelegt oder an eine Wand des Grabes gelehnt.
 
Aller Wahrscheinlichkeit nach handelt es sich bei diesen Darstellungen um weibliche Gottheiten. Die Betonung des Schamdreiecks und der Brüste an vielen Figuren und die gelegentliche Darstellung von Schwangeren weisen allgemein in den Bereich der Fruchtbarkeitssymbolik. Der an den überwiegend als Grabbeigaben gebrauchten Idolen zu erkennende Aspekt weiblicher Fruchtbarkeit sollte wohl Wiedergeburt und Weiterleben im Jenseits garantieren.
 
Die kykladische Plastik der Frühbronzezeit kennt auch männliche Figuren. Dabei überwiegen Darstellungen von Musikanten, stehenden Flötenbläsern oder sitzenden Harfenspielern. Man kann nur die Vermutung wagen, dass hier Kultdiener dargestellt sind, die mit ihrer Musik den Gottesdienst begleiteten.
 
Unter der kykladischen Keramik hebt sich am Beginn des 3. Jahrtausends die nach dem Fundort Pelos auf der Insel Melos benannte Peloskeramik heraus. Die bauchigen Gefäße mit leicht geschweiftem, kegelförmigem Hals sowie runde und kugelige als Pyxiden bezeichnete Gefäße aus meist dunkelbraunem Ton tragen auf der Außenseite schwach eingeritzte Fischgrätenmuster, Winkelbänder und Dreiecke. Die Ornamente werden meist in senkrechten oder waagerechten Streifen, gelegentlich auch schräg zur Gefäßachse aufsteigend, angeordnet. Schnurösen, Verdickungen der Gefäßwand, die senkrecht oder waagerecht durchbohrt sind und ein Durchziehen von Schnüren zur Aufhängung der Gefäße ermöglichen, ersetzen hier noch die Henkel.
 
Der Höhepunkt kykladischer Keramikentwicklung ist in dem Gräberfeld von Chalandriani auf Syros Mitte des 3. Jahrtausends v. Chr. zu finden. Hellgrundige Schnabelkannen, hochfüßige Becher und Pyxiden tragen nun eine dunkle Bemalung einfacher linearer Art aus Gittermustern, schraffierten Dreiecken, Gruppen von Winkelbändern und teilweise Bogenlinien. Die Vorliebe für Schnurösen anstelle von Henkeln, nun vielfach paarweise angeordnet, setzt sich fort. Noch auffallender jedoch ist eine Gattung mit dunklem Urfirnis überzogener Gefäße, deren Oberfläche einen gestempelten Dreiecks- und Spiraldekor trägt. Weiße Einlegearbeiten hoben im Altertum die eingestempelten Muster gegen den dunklen Gefäßgrund ab. Zu den am weitesten verbreiteten Formen gehören Kegelhalsgefäße auf hohem Fuß. Ihre Dekoration beschränkt sich meist auf ein oben und unten von gestempelten Dreiecksreihen abgefasstes Spiralband auf dem Halsfeld.
 
Ebenfalls weit verbreitet sind die Kykladenpfannen, flache, pfannenartige Gefäße, die auf ihrer Unterseite einen reichen, gestempelten Dekor tragen. Die Randzone nimmt hier gewöhnlich ein kerbschnittartig angeordneter Dreiecksdekor ein, während die Innenfläche vielfach durch ein Netz, ein sich wiederholendes Rapportmuster aus gestempelten Spiralen, die durch eingeritzte Tangenten miteinander verbunden werden, gebildet wird. Konzentrische Kreise ersetzen vielfach echte Spiralformen. Auf einigen Pfannen hat dieses Spiralnetz gegenständliche Bedeutung. Es bezeichnet die Wogen des Meeres, auf dem ein eingeritztes Ruderschiff dahinfährt. Auf anderen Pfannen erscheinen über die Fläche gestreute Einzelspiralen oder konzentrische Kreise oder auch groß angelegte Sternenmuster. Die genaue Funktion der Kykladenpfannen, die meist in Gräbern zutage kamen, lässt sich nicht klären. Möglich wäre eine Verwendung als Spendepfannen zu kultischen Zwecken. Für eine derartige Vermutung spricht das seitlich von stilisierten Blattzweigen umrahmte Symbol eines weiblichen Genitals, das auf den Pfannen vielfach in Griffnähe eingeritzt ist. Das vegetative Element, verknüpft mit dem Aspekt weiblicher Fruchtbarkeit, könnte wiederum die Sicherung des Weiterlebens im Jenseits zum Inhalt haben. Auch Darstellungen von Schiffen und vom Meer, dem Lebenselement der Inselbewohner, lassen sich in dieser Richtung deuten.
 
Neben Keramik und den vor allem aus Marmor bestehenden Idolen produzierten kykladische Ateliers in großer Zahl Gefäße aus Stein, wobei Marmor naturgemäß auch hier zum Hauptwerkstoff gehörte. Die Gefäßformen entsprechen weit gehend denen der Keramik. Rechteckige Paletten, auf denen rote und blaue Farbe für die Körperbemalung angerieben werden konnte, flache Schalen, Fußbecher, Pyxiden und Kegelhalsgefäße unterstreichen die technische Brillanz der kykladischen Handwerker. Seltene Meisterwerke sind die vereinzelten Gefäße aus grünlichem Speckstein, einem weichen, leicht zu bearbeitenden Material. Die Oberfläche überziehen reliefierte Spiralnetze, die das Dekorationssystem der Kykladenpfannen in prachtvoller Weise noch einmal steigern.
 
In der Zeit nach 2400 v. Chr. wandelt sich der Charakter der Kykladenkultur deutlich. An die Stelle der bemalten und gestempelten, prachtvoll verzierten Keramik, wie wir sie aus Syros kennen, tritt nun einfarbige, polierte dunkle Tonware. Die Gefäßformen, unter anderem große Schnabelkannen und zweihenklige, schmale konische Becher, weisen auf kleinasiatische Vorbilder zurück. Parallel zu diesem keramischen Wandel vollzieht sich ein Niedergang der Idolplastik und auch der Herstellung von Gefäßen aus Marmor und anderen Steinarten. Es ist möglich, dass es in dieser Zeit zu Einwanderungen aus dem anatolischen Raum kam. Damit endete die frühe Kulturblüte der Kykladen und eine in der Ägäis einzigartige Kunsttradition.
 
Prof. Dr. Hartmut Matthäus
 
 
Demargne, Pierre: Die Geburt der griechischen Kunst. Die Kunst im ägäischen Raum von vorgeschichtlicher Zeit bis zum Anfang des 6.vorchristlichen Jahrhunderts. München 1965.
 Matz, Friedrich: Kreta und frühes Griechenland. Prolegomena zur griechischen Kunstgeschichte. Neuausgabe Baden-Baden 31979.

Universal-Lexikon. 2012.

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